„Erst auf der Bühne wächst das Werk“
Igor Levit zählt zu den begnadetsten Pianisten der Welt. Christoph Wellendorff traf den Künstler im Hotel Adlon in Berlin. Ein Gespräch darüber, wie Magie in der Musik entsteht, was Schmuck ihm bedeutet und warum die Liebe zu dem, was du tust, bedingungslos sein muss. Mittendrin gab’s eine große Überraschung.
Lesedauer: ca. 12 Minuten

Christoph Wellendorff: Lieber Igor, du bist ja schon ein Schelm, ...
Igor Levit: … ein Engel bin ich …
Wellendorff: … und ich habe das Gefühl, dieses Schelmenhafte hat uns zusammengebracht. Als wir uns vor Jahren auf dieser Geburtstagsfeier in Pforzheim kennengelernt haben, ist etwas Besonderes passiert. Du hast mich damals, wie du es ja oft gern mit deinem Gegenüber tust, aus der Komfortzone geholt. Eigentlich warst du der, der ans Klavier sollte. Aber dann hast du mich genommen und überredet, vor all den Gästen und vor dir Beethoven zu spielen. Was hast du dir dabei gedacht, mich da vorzuführen?
Levit: Ich habe von Anfang an gesehen und gespürt, wie viel Freude dir allein der Gedanke bereitet hat, das zu tun – trotz Druck und Nervosität. Sonst hätte ich das nie erzwungen. Und wenn ich diese Mischung aus „Oh Gott, ich bin nervös und möchte mich eigentlich einigeln“ und „Mein Herz brennt danach, ich will das machen“ erkenne, dann möchte ich bestärken. Und das Resultat gab mir Recht. Da war ich gern der Schubser.

Wellendorff: Danke, das hast du gut gemacht. Nun, du bist nicht nur ein begnadeter Pianist, sondern an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover auch Professor für Klavier und gibst Unterricht. Was willst du deinen Studentinnen und Studenten vermitteln?
Levit: Jeder von ihnen kann Klavier spielen. Ich versuche sie darauf vorzubereiten, wie es sein wird, wenn dieses Studium, diese luxuriöse Zeit vorbei, dieser geschützte Raum weg ist. Irgendwann gehen sie in die Welt, und da wartet niemand auf einen. Wie also behauptest du dich da? Wie schaffst du es, da rauszugehen mit dem Gefühl, ich habe eine Bedeutung in diesem Leben. Also wenn jemand zu mir kommt und irgendein Stück spielt, dann ist meine Ansage: Du kannst mit diesem Werk machen, was du willst. Du kannst das, was der Komponist geschrieben hat, ins Gegenteil verkehren. Du darfst das tun, du bist ein souveräner Mensch. Ich will wissen, wie bist du von „Da sehe ich den Notentext zum ersten Mal und fange an zu lernen“ nach „Ich entscheide mich dafür, den Notentext von links nach rechts zu drehen“ gekommen? Was mir nicht reicht, ist dieses „Ich fühle es halt so, also mache ich es so“. Mit der Einstellung bist du bei mir raus.
Wellendorff: Raus?
Levit: Ja. Meine Fragestellung beinhaltet ja, dass man schon wissen muss, was in den Noten steht. Erst wenn ich ein Bewusstsein zu diesem Werk entwickelt habe, kann ich sagen, jetzt mache ich mein eigenes Stück daraus. Die allermeisten scheitern hier. Und da fängt das Arbeiten an. Im Grunde bestärke ich meine Studenten darin, auf eine gute Art und Weise so viel Selbstbewusstsein wie möglich in sich reinzupumpen, indem sie so viel wie möglich wissen, so viel wie möglich arbeiten, so viel wie möglich lernen. Das ist die eine Seite der Medaille, die künstlerische Seite, wo Magie entsteht und Zauberei. Ich kann ein unglaubliches Talent haben. Doch wenn ich dich nicht berühre, kaufst du keine Karten fürs Konzert.
Wellendorff: Und die andere Seite?
Levit: Die wird Dich jetzt vielleicht überraschen. Die Gabe, mit der man beschenkt wurde, ist keine Garantie fürs Überleben da draußen. Denn genauso wichtig ist, dass du dein Leben unter Kontrolle hast. Gleich im ersten Semester erzähle ich ihnen: Habt eure Finanzen im Blick, holt euch einen Steuerberater, umgebt euch mit Menschen, die euch die Wahrheit sagen, habt Freunde, die auch ein Korrektiv sind. Wenn du gegessen hast, spüle deinen Teller jetzt ab und nicht in drei Tagen. Erledige Dinge sofort, sonst hast du von dem, was essenziell für dich ist, immer weniger: nämlich Raum zum Wachsen, Raum zum Musikmachen, Raum für die Kunst. So rede ich mit meinen Studenten über den Teil des Lebens, wo eins plus eins elf ergibt, und über den, wo eins plus eins zwei ist.
Wellendorff: Es gibt Menschen, die sagen, dass du mit drei, vier anderen Pianisten auf der Welt der begnadetste Beethoven-Interpret bist. Als du damals in Pforzheim die Pathétique für uns gespielt hast, war das für mich ein magischer Moment. Vor allem deswegen, weil ich selbst sie sehr oft gespielt habe und etwas rüberkam, was ich zuvor noch nicht gespürt habe. Was ist das?
Levit: Sag du es mir, was das war.
Wellendorff: Das Stück hat angefangen zu singen. Es hat eine eigene Melodie bekommen – für mich. Und ich habe das Gefühl, dass das sehr viel mit Technik zu tun hat.

Levit: Total. Natürlich hat alles sehr, sehr viel mit Handwerk zu tun. Ich muss doch in der Lage sein, meinen Kopf und mein Herz in meine Hände, in das Spiel zu übersetzen. Sonst bin ich ein Amateur. Aber wie das Erlebnis war, das gehört zu deinem Erlebnisraum. Ich muss ehrlich sagen, ich erinnere mich nicht mehr daran. Das ist bei mir immer so. Wenn ein Konzert stattfindet, ist es das Wichtigste auf der Welt, und danach ist es vorbei.
Wellendorff: Wann ist ein Musikstück für dich so fertig, dass du damit auf die Bühne gehen kannst?
Levit: Ich gehe mit dem Stück in dem Moment auf die Bühne, wenn ich es spielen kann.
Wellendorff: Wann kannst du es spielen?
Levit: Das hängt vom Werk ab – manchmal in einer Woche, manchmal in drei Tagen, manchmal in drei Monaten. Aber ich gehe sofort auf die Bühne. Ich warte keine Sekunde zu lang darauf. Dafür lerne ich doch. Ich kann nicht nur in meinen vier Wänden spielen, ohne das Publikum, für das ich das doch mache. Erst auf der Bühne wächst das Werk, da spüre ich die Reaktion der Leute, da entsteht Interpretation.
Wellendorff: Du trägst ein Armband von Wellendorff und hast mit dem Federnden Gold deine Erfahrung gemacht. Wir haben lange überlegt, wann ist es fertig, wann ist das Gold so weit, dass wir was zeigen können. Nach 17 Jahren waren wir zufrieden. Was hast du beim Federnden Gold gespürt?
Levit: Wer mich kennt, der weiß, dass das, was ich dir jetzt beschreibe, das Höchste der Gefühle für mich ist. Ich habe das Armband angezogen, und drei Stunden später habe ich vergessen, dass ich es trage. Nicht mehr drüber nachzudenken, das ist für mich das Schönste. Dinge, die ich sehr liebe, zu denen ich eine Beziehung habe, sind Dinge, die so normal für mich sind, dass sie schon in meinen natürlichen Lebensraum übergegangen, ein Teil von mir geworden sind. Dass ich sie nicht mehr als ein Ding verspüre, das ich anlege und ablege, sondern das eben einfach da ist.
Wellendorff: Das ist das größte Kompliment, das du uns machen kannst. Nun, Schmuck hat oft zwei Namen. Einen, den wir ihm geben, und einen, den sein Besitzer ihm gibt. Du hast dein Armband Leben genannt. Warum?
Levit: Als du mich nach meinen Lieblingsfarben gefragt hast, habe ich gesagt, es gibt für mich Schwarz, und an der Gegenseite steht Rot. Dann sprachen wir über Feuer und Eis, und ich habe das Bild von schmelzendem Eis erwähnt, also von der Zusammenkunft zweier gewaltiger Energien. Die größtmögliche Härte und Kälte trifft auf die größtmögliche Hitze. Das Eis ist immer noch hart und kalt, aber es ist im Schmelzzustand. Es ist beides, es ist Reibung, und das ist für mich Leben.




Wellendorff: Du hast mal einen kleinen Unfall gehabt – mit einem Ring und einem Klavier ...
Levit: ... ja, ich habe mit einem Ring Beethovens Hammerklaviersonate gespielt, ein bisschen hart zugelangt und ein Tastenteil damit abgeschlagen.
Wellendorff: Seitdem trägst du beim Klavierspielen keinen Ring, oder?
Levit: Ich trage ab und zu einen, ein kleiner Davidstern am kleinen Finger. Ansonsten habe ich seit dem Malheur keinen mehr angezogen.
Wellendorff: Deshalb haben wir beide ja auch überlegt, wie cool es wäre, wenn du jetzt passend zu deinem Bracelet auch einen Ring hättest, mit dem du Klavier spielen kannst.
Levit: Ja, das wäre großartig.
Christoph Wellendorff greift zu dem Kästchen, das vor ihm auf dem Tisch steht. Er bittet Igor Levit, die Augen zu schließen und ihm seine Hand zu geben. Dann streift er ihm einen Ring über den Finger – in Rot- und Schwarztönen, mit funkelnden Brillanten.
Wellendorff: Du darfst die Augen wieder öffnen.
Levit: Wow, wie wunderbar. Gott, ist der schön.
Igor Levit steht auf und geht zu dem Klavier, das am Fenster steht. Er setzt sich hin, schaut auf den Ring und fängt an zu spielen, eines von Mendelssohns Liedern ohne Worte – ein ergreifender Moment. Nach fünf Minuten geht das Gespräch weiter.
Levit: Das ist der weichste Ring, den ich je am Finger hatte. Ihr macht einfach unglaubliche Sachen. Erkläre mir doch bitte diese Besonderheit, dass der Ring sich drehen lässt.
Wellendorff: Gern. Es gibt zwei Geschichten dazu, eigentlich drei. Die eine Geschichte ist meine eigene. Als meine Frau Iris das erste Mal schwanger wurde, war die Freude groß. Nachts um drei Uhr rief sie mich aus dem Krankenhaus an, dass es jetzt losgeht. Ich fuhr wie in Trance durch die Stadt. An der letzten Kreuzung gibt es ein Schild nach rechts, zum Krankenhaus, und nach links, zum Friedhof. Dort liegt das Grab meines Großvaters Alexander, den ich sehr geliebt habe und nach dem wir unseren Jungen nennen wollten. Daraus entstand die Idee, meiner Frau einen Ring zu schenken, der zeigt, dass jeder Anfang sein Ende schon in sich hat und jedes Ende gleichzeitig ein neuer Anfang ist. Die Drehbarkeit des Ringes soll als Symbol für die Unendlichkeit gelten. Und das war die Geburtsstunde des drehbaren Wellendorff-Rings.

Levit: Und die beiden anderen Geschichten?
Wellendorff: Ich höre oft von Kunden und Freunden, dass sie keinen „statischen Ring“ mehr tragen möchten. Denn das, was unser Leben auszeichnet, sei die Dynamik, dieser permanente Wechsel. Während der Corona-Zeit hast du mit deinen Hauskonzerten eine Chance ergriffen, selbst eine Dynamik geschaffen. Um diese Dynamik, um diese Einstellung zum Leben geht es bei unserem drehbaren Ring. Und die dritte Geschichte ist deine Geschichte. Was verbindest du mit dem Drehen?
Levit: Mir ist das, was du gerade beschrieben hast, sehr nahe. Ich denke nicht in Grenzen. Ich denke in Prozessen. Ich formuliere auch keine Ziele, ich will einfach Sachen machen, solange ich sie machen kann. Aus dem einen entsteht das nächste, entsteht das nächste. So kann ich diese Energie des Drehens gut nachempfinden. Ich erinnere mich an die Gedenkveranstaltung zum Tod meines besten Freundes. Ich weiß noch, wie ich versucht habe, das auszuhalten, nicht zu weinen, nicht schwach zu sein. Dann war die Trauerfeier zu Ende, und ich saß da auf der Wiese vor der Kirche, habe Rotz und Wasser geheult. In dieser Situation klingelt mein Handy und einer meiner engsten Freunde erzählt mir mit überglücklicher Stimme, dass seine Tochter gerade zur Welt gekommen ist. Diese Gleichzeitigkeit hat mich schier wahnsinnig gemacht. Aber es war ein Moment der Rettung.
Wellendorff: Schau dir mal den Ring genau an. Er besteht aus drei Ringen. Die Frage, die wir uns gestellt haben, war: Konstruieren wir die Ringe so, dass sie sich zusammenhängend drehen oder so, dass sich jeder in sich selbst noch einmal dreht.
Levit: Warum?
Wellendorff: Sag du es mir? Wofür stehen die drei Ringe in deinem Leben?
Levit: Ich werde häufig gefragt, was ich jetzt bin: der Pianist oder eher der politische Pianist, sind Sie dieses, sind Sie jenes? Es kommen ständig diese Fragen, mit denen es sich Menschen einfach machen wollen. Aber ich bin das alles gleichwertig und gleichzeitig. Was mir einfach nie gelingen wollte und wahrscheinlich nicht gelingen wird, ist diese Prioritätensetzung. Ich mache alles zur gleichen Zeit mit derselben Intensität. Jeder Teil meines Lebens braucht eine andere Form von Energie. Aber nur diese Teile gemeinsam ergeben mein Leben. Es könnten auch theoretisch acht Ringe sein, aber sie müssten sich alle einzeln, individuell drehen lassen. Jeder Ring hat einen Anspruch. Jeder Teil, der mich interessiert in meinem Leben, hat Anspruch.
Wellendorff: Lieber Igor, als wir uns kennengelernt haben, waren wir uns schnell einig, dass sich bei Schmuck und Musik Handwerk und Kunst auf perfekte Weise verbinden, dass die Leidenschaft allein nicht ausreicht und die Technik allein auch nicht. Unser Leitspruch bei Wellendorff lautet Aus Liebe. das Beste. Wenn du das auf die Musik überträgst …
Levit: … dann ist das Entscheidende, dass deine Liebe, in meinem Fall die zum Klavierspielen, so groß ist, dass du sowieso nicht anders kannst, als daran zu sitzen und zu arbeiten. Wenn mir jemand sagt, er möchte Künstler werden, ist das schon der Moment, wo ich ihm sage, werde es nicht. Ich bin Künstler, ich muss das sein. Es ist kein Job, den ich mache. Ich brauche die Musik als Seelennahrung. Wenn du nicht anders kannst, dann bist du im richtigen Leben.



Das Gespräch zwischen Igor Levit und Christoph Wellendorff im Video auf unserer Website:

